Ein laufender Meter (plus fünfundachtzig)

Geposted von Anja Murjahn am

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Foto: Peter Smeets

Der genaue Zeitpunkt ist mir entfallen, aber irgendwann um meinen 14. Geburtstag herum schleppte meine Mutter mich zwecks Ermittlung meiner endgültig zu erwartenden Körpergröße zum Röntgen meines Handwurzel-knochens. Das Ergebnis war niederschmetternd, zumindest im übertragenden Sinne. 185 cm! Ein Meter fünfundachtzig!!! In meinem Teenagerkosmos, in dem die Mädchen klein und grazil waren und beim Geräteturnen leichtfüßig über den Schwebebalken balancierten und selbst die Jungs die Messlatte im Schnitt bei maximal 170 rissen, war kein Platz für so viele Zentimeter. Schon jetzt überragte ich mit 175 sämtliche meiner Klassenkameraden, wurde regelmäßig gefragt, wie denn das Wetter da oben sei und hing im Sportunterricht wie ein nasser Sack am Stufenbarren. Gerade erst hatte ich die ersten Tanzstunden absolviert, eines DER Großereignisse im Leben fast jedes hormonellen Heranwachsenden, allerdings mit deutlich weniger Spaß als meine Mitstreiter. Ich war regelmäßig die letzte, die aufgefordert wurde und wenn Damenwahl war, konnte ich in den panischen Blicken der Jungs die Stoßgebete lesen, die sie gen Himmel schickten, damit der Kelch eines Tanzes mit der Bohnenstange an ihnen vorübergehen möge. Auf all das nochmal rund zehn Zentimeter draufzupacken, erschien mir völlig undenkbar, zumal ja überhaupt nicht abzusehen war, in welchem Tempo ich weiterwachsen würde und ob ich den Abschlussball bereits mit einem gedanklichen Eintrag im Guinnessbuch der Weltrekorde würde bestreiten müssen. Wenn mir damals irgendein Mensch gesagt hätte, dass ich mich eines Tages mehr oder weniger ausschließlich auf hohen Absätzen durchs Leben bewegen würde – ich hätte ihn oder sie für komplett verrückt erklärt.

Aber wie heißt es so schön? Never say never! Selbstverständlich erlag auch ich irgendwann dem Reiz von High Heels in allen Formen – und wenn ich High sage, meine ich auch High.

Schuhe mit mindestens zehn Zentimeter Absatz waren die Regel, nicht die Ausnahme. Ich war zwar bei 183 cm stehengeblieben, aber man muss kein Mathegenie sein, um sich auszurechnen, dass dadurch die Luft relativ dünn wurde, zumindest was „passende“ Männer betraf. Und natürlich ist nicht jeder große Mann automatisch einer, mit dem man mehr möchte als sich auf Augenhöhe zu begegnen. Trotzdem wollte ich nicht auf Absätze verzichten oder mich gar kleiner machen, als ich nun mal bin. Über mich selbst hinauszuwachsen war etwas, das ich wörtlich nahm und was mir im Leben viele wundervolle Begegnungen beschert hat. Meine Größe, mit der ich zu Beginn so sehr haderte, wurde über die Jahre zu etwas, das ich niemals wieder würde missen wollen, auch wenn ich in der letzten Zeit wieder zu bequemerem Schuhwerk übergegangen bin. Wer dieser Tage die Gelegenheit hat, einen Blick in meinen Schrank zu werfen, sieht eigentlich nur eines: Sneakers, soweit das Auge reicht.

Dennoch würde ich mich niemals von all meinen Preziosen trennen, die ich über die Jahre angesammelt habe, denn sie erzählen alle ihre eigenen Geschichten. Von durchtanzten Nächten, von Hochzeiten und von Scheidungen, von abgebrochenen Absätzen, von großer Liebe und noch größerem Liebeskummer, von gänzlich unpassenden Orten und immer davon, wie unglaublich schön und wahnwitzig das Leben so sein kann. Und so ist es ja mit so vielen anderen Dingen in unseren Kleiderschränken auch – und deshalb liebe ich auch das Thema Vintage so sehr, denn man weiß nie, was sich eventuell für eine fabelhafte Geschichte hinter einem Kleidungsstück verbirgt, das wir „preloved“ erwerben.

Euch eine wunderschöne Woche!

LOVE, Anja

P.S. Von einem Paar Schuhe trenne ich mich übrigens doch. Diese mega schönen Pumps von Louis Vuitton waren sogar mal zu Gast auf der LV-Show anlässlich der Fashion Week 2018 in Paris - und ich finde, so viel Glamour darf nicht in meinem Kleiderschrank stehen, sondern muss raus unters Fashionvolk.

 

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